T1Day2020: Diabetes als Lifecoach? Eine Kritik

Dieses Jahr fand am 26. Januar 2020 wieder der T1Day in Berlin statt: Ein Tag von und für Menschen mit Typ1-Diabetes und deren Angehörige. Ich konnte nicht viele Vorträge live miterleben, da ich Sascha vom diabetesbeachclub hinter und vor der Kamera unterstützt habe.

Den ersten Eröffnungsvortrag habe ich komplett und live angehört und möchte meine Gedanken dazu teilen. Vorab: Die Kritik richtet sich nicht nur an die Vortragende, sondern ist eine generelle Kritik, warum manche Ratschläge zu kurz greifen.

Karima Stockmann: Lifecoach Diabetes – Lebenslust statt Zuckerfrust

Karima Stockmann hielt den ersten Vortrag des Tages. Der Vortrag begann mit dem Titel „Typ1-Diabetes: Life Coach, der Superkräfte verleiht!

Karima erzählte uns, dass sie sich selbst als Teilzeitdiabetikerin sieht. Da stellten sich mir schon die ersten Fragen. Was passiert in der restlichen Zeit mit dem Diabetes? Gibt es einen Aus-Knopf für den Diabetes? Wo finde ich den?

Bildbeschreibung: Frau mit verwirrten Gesichtsausdruck, Hände mit den Handflächen nach oben am Körper abgewinkelt

These: „Lebensfreude ist eine Entscheidung!“

Lebensfreude ist eine Entscheidung – außer, du hast Depressionen oder psychische Erkrankungen. Dann hast du dich falsch entschieden. Trotz Diabetes Life Coach Superkraft.

Strichmensch1: „Jetzt lach doch mal!“, betitelt als Bekannte. Strichmensch2: „Hihi“, Bildunterschrift „entfernte Bekannte“, Bekannte durch Abreißen entfernt.

These: Lifecoach Diabetes und drei Superkräfte!

Der Lifecoach Diabetes bringt laut Karima drei Superkräfte mit sich. Drei Superkräfte beziehungsweise Tipps, die uns helfen sollen, den Lifecoach besser auszukosten. Ok, in mir zieht sich schon alles zusammen, aber ich lasse mich auf dieses Experiment mal ein.

Bildbeschreibung: Foto einer Powerpointpräsentation, Überschrift: „Diabetes mellitus Typ1 = ein Lifecoach, der Superkräfte verleiht“, darunter ein Sessel

Superkraft: Achtsamkeit

Achtsamkeit, klar. Das, was von Küchenpsycholog:innen immer wieder als Allheilmittel angepriesen wird. Karima bat uns, eine Minute zu atmen. „Zum spüren. Spüre den Augenblick. Deine Füße [….].“

Atmen und spüren, alles klar, das geht leicht. Außer, du bist körperlich behindert wie zum Beispiel mit einer Nervenschädigung, die als diabetische Folgeerkrankung bekannt ist.

Superkraft: Dankbarkeit

„Sei dankbar, dass du Diabetes hast.“ Ok, Dankbarkeit für Diabetes. Ich versuch es mal kurz:

Danke, dass ich chronisch krank bin.

Danke, für Diskriminierung und Bürokratie.

Danke, für die Angst vor Folgeschäden bei jedem f*cking Augenärzt:innenbesuch.

Danke, für nassgeschwitzte Laken durch nächtliche Unterzuckerungen.

Danke, dass ich mir Gedanken machen muss, welche Therapiemöglichkeit mein Leben am längsten begleiten wird.

Danke, dass PIEP AMPULLE LEER BITTE WECHSELN.

Versteht mich nicht falsch, ich bin ein sehr dankbarer Mensch. Dennoch bringt mich die pauschale Forderung „Sei dankbar“ nicht weiter. Auch die oft geforderten Vorschläge wie „Sei dankbar, dass es kein Krebs ist“ helfen mir nicht: Kein Tag mit einer Krankheit oder Behinderung ist gleich und das Vergleichen mit Krankheiten und Behinderungen bringt mich nicht weiter. Erinnert mich an die Frage: Wie schwer ist eigentlich Typ1-Diabetes? Der verlinkte Artikel enthält Rechenfehler und ich würde ihn mittlerweile etwas anders schreiben, aber: Im Kern stimmt er noch. Dankbar bin ich dafür, dass ich Menschen kennengelernt habe, die mich weitergebracht haben, die meinen Horizont erweitern. Dankbar dafür, dass ich mich mit digitalen Medien, dem Streit um Inklusion und Diabetestechnik auskenne.

Superkraft: Mut

„Was ich dir auch noch auf den Weg geben möchte, ist Mut. Sei mutig. [….] Trau dich, trotz Diabetes [….]“. Oh ja, Klassiker: Trotz Diabetes. Ich lebe einfach nicht trotz Diabetes, sondern mit Diabetes. Und ja, dieses kleine Wort macht einen feinen Unterschied: Ich treffe keine Entscheidungen dem Diabetes zum Trotz, sondern treffe meine Entscheidungen, um dann zu überlegen, wie ich das mit Diabetes bewältigen kann.

Doch weiter im Vortrag.

„Du bist heute morgen aufgestanden, du hast so eine große Leistung vollbracht, […] du lebst jeden Tag trotz deiner Krankheit. Der Wahnsinn, dass DU heute hier bist, ein Applaus für dich.“

Ok, vielen Dank für den Applaus an mich für meine bloße Existenz. So lange ich eine stabile Blutzuckernacht hatte, ist das Aufstehen keine Leistung für mich. Abgesehen davon, dass ich kein Morgenmensch bin und erstmal viel, viel Kaffee benötige, um überhaupt irgendwas zu tun.

Diese Sätze sind für mich inspiration porn. Mit dem Begriff „inspiration porn“ wird die Handlung bezeichnet, Menschen mit Behinderung aufgrund ihrer Existenz zu beglückwunschen und das Existieren an sich als Leistung zu betrachten.

Superkraft Beate putzt: Aufregen

Mit Verlaub: Ich bin eine positive Realistin und der Vortrag war für mich ein Schlag ins Gesicht. Ich konnte damit gar nichts anfangen. Ja, ich bin achtsam, dankbar und mutig und dennoch ist Typ1-Diabetes eine scheiß Stoffwechselkrankheit, deren Therapie mich jeden Tag herausfordert, jede medizinische Entscheidung beeinflusst, nicht heilbar ist und das Risiko für Folgeschäden erhöht.

Diabetes ist mein Lifecoach, weil ich alle Entscheidungen mit ihm abstimmen muss: Jetzt essen oder nachher essen, wann und wie bewege ich mich (nicht), Krankheit, Zahnarzt-Besuch, etc pp. Ihr kennt das. Ich würde das Wort Lifecoach nicht nutzen, aber meinetwegen. Allerdings verleiht der Diabetes mir keine Superkräfte, sondern konfrontiert mich sehr hart mit mir selbst.

Jonathan Teklu: Diabetes ist meine Stärke

Bei meinem ersten Besuch auf dem T1Day sprach damals Jonathan Teklu, einer der Gründer von studiVZ. Er sprach davon, den Typ1-Diabetes auch als Stärke zu sehen. Der Vortrag hat bis heute bei mir einen positiven Eindruck hinterlassen. Ja, Typ1-Diabetes ist meine Stärke, denn er nötigt mich, mich mit mir selbst auseinanderzusetzen. Allerdings ist auch das für manche Menschen nicht möglich: Kein Zugang zur medizinischen optimalen Versorgung, kein Zugang zu Schulung, Sprachbarrieren, Erschwerung der Therapie durch weitere Erkrankungen, etc.

In meinem Fall bedeutet Diabetes als Stärke, dass ich mich dadurch selbst ziemlich gut kenne: Meine Stärken und meine Schwächen und wie ich beides nutzen kann. Und auch beides nutzen muss, sonst läuft nix. Der Vortrag war für mich deshalb so gut, weil er so pragmatisch war und nichts beschönigt oder schön geredet hat. Von Superkräften war das ganz schön weit weg.

Achtsamkeit, Dankbarkeit, Mut – alles Quatsch?

Long story short: Achtsamkeit, Dankbarkeit und Mut können mich auf meinem Lebensweg unterstützen. Sie sind kein Allheilmittel und sie machen mein Leben auch nicht leicht und bunt, auch wenn ich das möchte.