Aufreger der Woche: „So tun als ob“-Inklusionsexperimente
Hallo in die Runde,
willkommen zurück zum Aufreger der Woche! Thema: „So tun als ob!“-Inklusionsexperimente.
Der Anlass für den Aufreger der Woche: „So tun als ob“-Inklusionsexperimente
Anlass für diesen Aufreger der Woche ist ein Tweet von Julia Probst, in dem es über „So tun als ob“-Inklusionsexperimente in Fernsehsendungen geht (vgl. https://twitter.com/EinAugenschmaus/status/1134367407894618112).
In diesem Fall setzt sich eine Person ohne Behinderung in einen Rollstuhl. Sie fährt neben einer Person, die immer mit Rollstuhl unterwegs ist, durch die Gegend. Erinnert mich an die FSJ-Experimente, die immer gleich enden: Froh sein, aufstehen zu können und wie schlimm das Leben im Rollstuhl die ganze Zeit ist. Die Sicht von Rollstuhlfahrenden ist dazu etwas anders. Alles eine Frage der Sichtweise!
„So tun als ob“Inklusionsexperimente mit Diabetes Typ1
Diese „So tun als ob“-Inkusionsexperimente beobachte ich auch in Bezug auf Diabetes Typ1. Menschen ohne Diabetes wollen durch Experimente nachempfinden, wie es wohl ist, Diabetes Typ1 zu haben. Dafür überlegen sie sich, wie viele Kohlenhydrate ihr Essen hat und wieviel sie dafür spritzen müssten (oder spritzen mit Kochsalzlösung).
Die Bemühung kann ich nachvollziehen. Ich habe manchmal gedacht oder gesagt: „Wenn die Person nur für einen Tag Diabetes Typ1 haben könnte, dann könnte sie XYZ nachvollziehen„. Das war, gelinde gesagt, ziemlich dämlich von mir.
Barrieren sichtbar zu machen ist wichtig!
Barrieren sichtbar zu machen ist wichtig.
Das Problem an den „So tun als ob“-Inklusionsexperimenten ist schlicht und ergreifend: Sie zeigen nicht die wirklichen Barrieren für die Person mit der Behinderung, mit Typ1-Diabetes.
Menschen ohne Diabetes versuchen, durch Kohlenhydrate schätzen und spritzen ein Gefühl dafür zu bekommen, wie es ist, Diabetes zu haben. Hinterher ist das Ergebnis oft Mitleid („Cool, dass du das schaffst!“, „Ihr braucht alle mehr Unterstützung!“), Bewunderung („Wow, wie stark du sein musst!“), selten auch Erkenntnis („Oh, das kann manchmal echt anstrengend sein!“).
Bloß: Mir hilft das in Bezug auf Inklusion nicht weiter. Mir hilft es auch nicht weiter, wenn mich als Einzelperson die ganze Welt unterstützen will. Meine Barriere ist schlicht und ergreifend nicht das Leben mit spritzen und schätzen mit einer gesunden Bauchspeicheldrüse. Mein Problem ist nicht, für einen Tag bis eine Woche damit zurecht zu kommen.
Diese Aussage ist kein Vorwurf, nur eine Feststellung.
Probleme und Barrieren im Alltag
Die Probleme und Barrieren im Alltag teilen sich meiner Erfahrung nach in zwei Teile: Offensichtliche Barrieren und Barrieren, die nicht so offensichtlich sind.
Teil1: Offensichtliche Barrieren
Menschen mit Typ1-Diabetes
- ersetzen ein Teil eines Organs
- versuchen, den Spagat zwischen Spritz-Ess-Abstand, Insulin und Nahrungsaufnahme optimal auszuloten
- versuchen, Sport mit der GENAU richtigen Menge an aktivem Insulin zu machen
- versuchen, den Blutzuckerspiegel in einem festgelegten Bereich zu halten
- …
Teil2: Weniger offensichtliche Barrieren
Menschen mit Typ1-Diabetes
- verbringen auch 2019 immer noch unfassbar viel Zeit damit, ein Rezept zu erhalten
- verbringen auch 2019 immer noch unfassbar viel Zeit im Wartezimmer von Arztpraxen
- leben mit dem Hintergedanken „Folgeerkrankung“ bzw. der Hoffnung, keine zu bekommen
- meistern oder scheitern an Hürden bezüglich einer Aufnahme in eine Private Krankenversicherung
- erleben häufig, dass JEDE andere (akute) Erkrankung von ihrem Typ1-Diabetes kommt
- haben keine Chance auf eine Berufsunfähigkeitsversicherung
- bekommen häufig die Kompetenz abgesprochen, insbesondere auch von medizinischem Personal, das nicht speziell für Diabetes (egal welchen Typs) ausgebildet wurde
- …
Hinzu kommt, dass es meines Eindrucks nach keine vernünftige Patientenorganisation gibt, sodass uns schlichtweg die Lobby fehlt. Das ist meiner Beobachtungen nach leider kein Problem alleine von Menschen mit Typ1-Diabetes, doch das würde an dieser Stelle zu weit führen.
Aber was darf man denn dann noch machen?
- Aushalten, wenn jemand sagt, dass das Leben mit Typ1-Diabetes gerade verdammt anstrengend ist.
- Aushalten, wenn jemand sagt, dass das Leben mit Typ1-Diabetes gerade verdammt nicht anstrengend ist.
- Für Inklusion einsetzen. Das kann „einfach“ schon sprachlich sein. Ich bin nicht „das arme Mädel mit dem schweren Diabetis“ oder „die Aaaaaarme, die hat schwer Zucker!“.
- Menschen mit Typ1-Diabetes (oder anderen Beeinträchtigungen/Behinderungen) zuhören, in einen Dialog gehen.
- Höflich nachfragen.
- Aufmerksam sein: Gibt es Barrieren? Kann die Barriere beseitigt oder reduziert werden?
- Wenn du als Typ-F’ler*in so ein Experiment machst, immer bedenken: Das ist NICHT das Leben mit Typ1-Diabetes. Ähnliches las ich z.B. auf dem Blog von Diafeelings, deren Freund vor einiger Zeit solch ein Experiment machte. Die zwei haben das Experiment für sich abgeklärt. Für sich selbst in einer Beziehung/Freundschaft ist das zum Glück eine andere Sache als solch allgemeine Experimente wie die genannten Beispiele der Rollstuhlfahrenden!
- Sag mir einfach nicht, wie „stark“ du mich findest. Ich bin manchmal stark und manchmal schwach. Wäre ich auch ohne Diabetes Typ1, wie jeder andere Mensch auch.
Da ich ein Glückskind bin, habe ich zum Glück eine tolle kleine Familie und Freund*innen, die genau das alles können – und jede*r macht das anders. Find ich gut!
Liebe Grüße, beate putzt